L&C PLUS 200

Von Reinhard Zollitsch

Orono, Maine, USA

DIE ZWEIHUNDERTJAHRFEIER

An einem kalten Winterabend saß ich so an meinem Schreibtisch und dachte mir, wie ich in meinen nächsten Ferien als alter Pauker dem täglichen Stress des Schullebens entkommen konnte. Am Strand von Aruba liegen und was Kaltes trinken, oder in vornehmen Hotels und Kasinos in Las Vegas herumkreuzen, waren nicht mein Typ. Ich brauche aktive Ferien, vorzugsweise in einem kleinen Boot, und wenn möglich solo. Aber Juni auf dem Nordatlantik bei uns hier in Maine ist einfach noch zu kalt, neblig und windig. Das lohnt sich kaum.

Da fiel mir eine kleine Notiz in der Zeitung auf, die besagte, dass die Jahre 2003-2006 zu Lewis und Clark Jahren ernannt worden waren, in Erinnerung an ihre transkontinentale Expedition vom Mississippi zum Pazifischen Ozean, meist auf dem Missouri und dem Columbia Fluss.

Schon als Schüler hatten mich diese zwei unermüdlichen Kundschafter und Forscher beeindruckt. Das 42 Mann starke “Corps of Discovery”, so erinnerte ich mich noch, bekam von dem damaligen USA Präsidenten Thomas Jefferson das Mandat, einen Seeweg vom Mississippi zum Pazifik zu finden, und das mit einem Gesamtbudget von 2500 Dollar.

Im Jahr 1803 war gerade der Louisiana Purchase Vertrag unterschrieben worden, der das Gebiet der USA nach Westen hin, jenseits des Mississippi, fast verdoppelte. Am 14. Mai 1804 segelten, ruderten, paddelten oder treidelten Meriwether Lewis und William Clark (von jetzt ab von mir nur kurz L&C genannt) und ihre 40 Mann starke Mannschaft den Missouri stromaufwärts zu den Rocky Mountains, der “Continental Divide”, der großen Wasserscheide.

Was mich immer besonders beeindruckt hatte, war die Tatsache, dass dies eine reine Kundschafter- und nicht Eroberungsfahrt war, und dass beide einen ausgiebigen Reisebericht geschrieben hatten, in dem sie nicht nur geographische Aufzeichnungen machten, sondern auch biologische, geologische und ethnologische. Es ist eine Fundgrube des Wissens gemischt mit dem Enthusiasmus zweier Forscher, die sich in einem bis dahin unbekannten Land befanden.

WANN UND WO?

Das war’s. Das Gebiet kannte auch ich noch überhaupt nicht - es war auch für mich Neuland. Aber wann und wo sollte meine Fahrt losgehen? L&Cs erstes großes Ziel war den Missouri hoch zu den legendären, zehn-Meilen-langen “Great Falls”, den großen Wasserfällen, die bis dahin noch kein Weißer gesehen hatte - “the grandest sight I ever beheld” [“das Großartigste, was ich je gesehen habe”] (Lewis, 13. Juni, 1805). Das klang gut; das musste auch ich sehen, und zwar zur gleichen Jahreszeit, Anfang Juni. Nur ich würde von dort flussabwärts fahren, 190 Meilen bis zum James Kipp State Park, einer der wenigen Zugangsstellen zum Fluss.

Karte
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Im Internet fand ich einen willigen Bootsvermieter, der mir ein umweltfreundlich grünes OLD TOWN Penobscot 16 lieh und bereit war, mich samt meinen zwei Seesäcken voll Ausrüstung am Flughafen abzuholen. Alles klappte wie geplant; Jim war da mit Boot, einer Propanflasche für meinen Kocher,  30 Liter Wasser, sowie meinem Zaveral Kanurennpaddel, das ich ihm mit der Post im voraus zugeschickt hatte. Um 14:30 Uhr Ortszeit des selben Tages (2. Juni) waren wir bereits an der Einsetzstelle, am letzten der fünf Dämme (Morony Dam), noch oberhalb der Stelle, wo L&C ihre monatelange Portage begannen - und die Fahrt ging los.

Eagle Dam bei Great Falls
Eagle Dam bei Great Falls

Gewöhnlich setzt man 64 km flussabwärts bei Benton ein, wo der “National Wild and Scenic River” beginnt. Ich aber wollte ganz oben, so hoch es geht, in Great Falls, einsetzen. Ich war in einer Schlucht, unterhalb eines großen Elektrodammes. Der Wasserlauf war sehr heftig, und ich hatte dazu starken Gegenwind. “Nur links halten, gerade steuern und pützen!” war Jims Rat, und da war ich auch schon in den ersten Walzen, auf den Knien, und hatte bereits geistig von Fahrten- auf Wildwasserrennmentalität umgeschaltet. Einmal schlug das Boot so voll, dass ich in einer Kehre den halben Fluss, so schien es, aus dem Boot rauslenzen musste.

Nach elf Meilen breitete sich dann aber das Ufer aus, und ich fand eine ebene Stelle für mein Zelt. Dann regnete es bis zum Morgen.
Regen, starker Wind und Kälte hatten schon vor 200 Jahren L&C Schwierigkeiten bereitet; aber wenn die das geschafft hatten, so werde auch ich es schaffen, dachte ich mir zuversichtlich. Ich hab’ Gore-Tex, Polarfleece, Nylon und Neopren, während L&C nur Wolle, Kattun und Leder hatten - “I have the edge” [Vorteil RZ]!

FORT BENTON

LC und RZ
L&C und RZ

Nach weiteren 32 km kam ich in Fort Benton an, der Metropole in der damaligen Pionierzeit. Bis hier her brachten flache Paddeldampfer die vielen Neusiedler ins Land, sowie endlose Mengen Proviant, Baumaterial, Saat, Tiere, Möbel und was man so nicht alles braucht, wenn man ein neues Leben in einer völlig neuen Welt anfängt. Hier steht auch das bekannte L&C Denkmal von Bob Sciver: der Expeditionsleiter Lewis mit Fernrohr, der Kartograph und Navigator Clark mit Kompass, und die unschätzbare, landeskundige Shoshone Führerin Sacagawea.

Und daneben das 16 Meter lange Proviantschiff der Expedition, die Mandan, eine äußerst spartanische Sache mit minimalem Mast und primitivem Steuerruder und ohne Bullaugen/Fenster - was erwartet man auch von $2500 für eine 3-jährige Expedition? Die 42 Mann des “Corps of Discovery” müssen dann wohl jede Nacht unter Planen an Land campiert haben, so wie ich in meinem minimalen Zelt.

In Fort Benton fängt heutzutage für fast alle die Flussfahrt an. 1976 wurden die nächsten 238 km zum ”National Wild and Scenic River” ernannt.  2001 wurden weite Trakte den Fluss entlang zum “Upper Missouri River Breaks National Monument” ernannt, und das heißt, dass dieses ganze Gebiet, außer ein paar frühen Homesteads, kein einziges Haus, Hotel, Motel oder Restaurant hat. Es gibt auf der gesamten Strecke zwischen Fort Benton und dem James Kipp State Park auch nur zwei weitere Zugangsstellen zum Fluss; es ist also völlig leer und unberührt, so wie es vor 200 Jahren einmal war.

Es ist erstaunlich isoliert und einsam, und auf den letzten 160 km meiner Reise sah ich dann auch keinen einzigen Menschen, sondern war ganz allein mit mir und L&Cs Tagebuch, und hatte die Gelegenheit, ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der USA, in einer höchst interessanten geologischen Landschaft nachzuerleben. Was mich besonders freute, war die Tatsache, dass diese Strecke nun auf alle Zeit für jedermann in seiner Unberührtheit erhalten ist. (Später im Jahr soll aber der Bootsverkehr stark zunehmen, hat man mir gesagt.)

DIE LANDSCHAFT

Natürlich hab ich mein Zelt an verschiedenen Orten aufgeschlagen, wo auch L&C gecampt hatten, hab’ ihre Einträge mit meinen Beobachtungen verglichen, und war erstaunt, wie scharf sie alles gesehen und beschrieben hatten - und stets mit viel Enthusiasmus und Erwartung, was es wohl um den nächsten Flussbogen zu sehen gab. Dieser Enthusiasmus und Wissensdrang schienen mir die Haupttriebfedern der Expedition gewesen zu sein, so wie sie auch mich immer auf meinen Fahrten vorwärtsziehen.

Ich wurde zu einem modernen L&C und erlebte die Gegend, wie sie es getan haben mussten. Ich sah die Sandsteinkliffe, wie sie ihre Form und Farbe änderten, von weiß über grau und rostbraun auf schwarz, und von klotzig-klobigen weißen Blöcken, so groß wie ein grandioses europäisches Schloss, zu spitzen Türmen mit schwarzen Dächern. Da waren steile, schmale Wände mit Windlöchern drin, und hier und da riesige schwarze Zaubererhüte aus Basalt - eine magische Welt, die L&C enorm faszinierte, die sie aber nicht völlig verstanden.

Sie konnten noch nicht wissen, dass der Missouri sein Flussbett durch einen Meeresboden geschnitten hatte, ein Meer (Western Interior Seeway), das vor 70-90 Millionen Jahren, in der Kreidezeit, den Golf von Mexico mit der Beringsee östlich der Rockies verband. Montana und die meisten Prairiestaaten waren unter Wasser, und die Sandsteingebilde sind nichts anderes als Ablagerungen der Flüsse in dieses Meer. Die dünnen Wände sind Eruptivgesteine, die in die Risse im Sandstein gedrückt wurden und der Erosion länger standhielten als der weiche Sandstein. Die schwarzen Zaubererhüte  sind Basaltintrusionen, weiter nichts. Faszinierend, wie man das alles auch sieht!

Dazu kommt, dass der Fluss auf halbem Wege seinen Charakter ändert, was L&C auch nicht wussten, weil er in der letzten Eiszeit, so etwa vor 12000 Jahren, vom Eispanzer gezwungen wurde, einen neuen Lauf 100 km südlich zu finden, ganze 640 km bis hin zum Yellowstone Fluss.

Auf jeden Fall war ich genauso fasziniert von dem Fluss und der Landschaft wie L&C, auch wenn wir heute einiges anders sehen.          

SIND WIR NOCH AUF KURS?

Mein Tagesziel für die Reise waren 40 km, die ich mit dem steten Strom meist zu Mittag absolviert hatte. Das gab mir genügend Zeit, die Gegend auch zu Fuss zu erkunden, zu lesen und meinen Reisebericht zu schreiben, sowie etwas zu ruhen und im Fluss zu schwimmen, obwohl der noch recht kalt war.

Meine zweite Übernachtung war bei Evans Bend. Bald darauf kam ich zur Mündung des Marias Flusses, wo L&C neun Tage verbrachten, weil sie nicht genau wussten, welcher Arm der Missouri war, der zu den “Großen Wasserfällen” führte. Heute ist das nicht mehr schwer zu sehen, aber damals muss es ein echtes Problem gewesen sein, sonst hätten die Leute nicht neun Tage vergeudet, an denen sie ihre täglichen 24 km hätten flussaufwärts schaffen können. Diese ganze Reise war plötzlich in der Schwebe: “..to mistake the stream at this point of the season...would not only lose us the whole of the season but would probably so dishearten the party that it might defeat the expedition altogether.” (Lewis, 3. Juni, 1805). [Durch einen falschen Entscheid an dieser Stelle würden wir nicht nur die gute Jahreszeit verlieren, sondern auch so enttäuscht werden, dass die gesamte Expedition in Frage gestellt ist.]

Die Zeit vom 2-10 Juni, als die gesamte Reise in der Schwebe war, dachte ich mir, als ich meine Fahrt plante, war enorm wichtig für die Expedition and sollte deshalb auch mein Reisetermin sein. Man kann natürlich auch im Sommer oder Herbst den Fluss runter fahren, nur hat das wenig mit der L&C Expedition zu tun. Wind, Regen und Kälte waren wichtige Ingredienzien der L&C Expedition und sollten es deshalb auch für mich sein. 
           
EAGLE CREEK

Wieder regnete es als ich zu den weißen Kliffs von Eagle Creek kam. Plötzlich war die Luft mit einem starken Kräutergeruch gefüllt. Ich schloss die Augen und holte tief Luft durch die Nase. Da war’s: Nancys Rinderbraten mit Salbei (“sage”). Und dann sah ich sie auch schon, die großen, runden, silbernen Salbeibüsche, die, wenn sie nass werden, einen starken Kräutergeruch von sich geben.

Ich musste lächeln und vergass momentan den  Regen. Ich schlug mein Zelt unter einem großen “cottonwood tree” (Pappel) auf, und dann kam das Gewitter den Fluss hinunter - ein sehr dramatisches Bild. Es erinnerte mich an das Bild “White Cliffs” des Schweizer Malers Karl Bodmer, der hier am 31. Mai 1833 mit dem deutschen Forscher Alexander Philip Maximilian (Prinz von Wied und Neuwied) sein Nachtlager aufgeschlagen hatte. Seine Reise war die erste wissenschftliche Reise auf diesem Fluss, und es waren die Bilder Bodmers, die den Missouri der weiteren Welt vorstellten. (Siehe: Maximilian Prinz zu Wied: “Reise in das innere Nord-America in den Jahren 1832-1834”. Bibliothek des Landesgewerbeamtes Stuttgart).

White Cliffs bei Eagle Creek
White Cliffs bei Eagle Creek

Bei Eagle Creek muss man unbedingt anhalten; das wusste ich von Anfang an. Dieser Ort ist unbeschreiblich - der eindrucksvollste meiner ganzen Reise, nein, der beste überhaupt! Er hat alles, grandiose, steile, weiße Sandsteinkliffe, schwarze Basaltintrusionen (LaBarge Rock), grad wie auf Bodmers Bild - nur die Bergschafe fehlten. (Ich sah sie aber weiter flussabwärts auf den steilen Berghängen.) Eagle Creek hat etwas unbeschreiblich Magisches, und ist so voller Geschichte, dass man gut ein Paar Tage hier verbringen könnte.

IN BODMERS BILD

Mich aber trieb der Strom an “Schlössern mit Windlöchern” vorbei, wie L&C vermeinten, bis ich an einer Stelle Halt machte, die ich von einem anderen Bild Bodmers kannte -  “Gros Ventre Indian Camp”. Der offizielle Campingplatz “Slaughter River” gefiel mir gar nicht, und der Name selbst noch weniger. Da dachte ich mir, du fährst ein paar  Meilen weiter und setzt dich ins Bild, mitten in das Bild Bodmers, wo die 260 Leder Indianerzelte der Atsina Indianer gestanden hatten. Der seichte Hang war heute mit zeltgroßen, silbergrauen Salbeibüschen bedeckt - ideal, dachte ich mir. Ich konnte mich da in meinem granitfarbenen Igluzelt visuell total auflösen, und mein grünes Boot verschwand im hohen Gras am Fluss.

In Bodmers Bild
In Bodmers Bild

Für Klapperschlangen war es hoffentlich noch zu kalt, dachte ich zuversichtlich, hielt aber auf meiner kurzen Nachmittagswanderung gut Ausschau.
Ich hatte duftende Salbeibüsche um mich herum, einen blühenden Kaktus vor meinem Zelt und die Bergkette “The Divide” gerahmt in meiner Zelttür. Es war unglaublich! Ich konnte kaum warten, Nancy zur verabredeten Zeit um 17:00 Uhr Ortszeit via Satellitentelefon zu berichten. Wir schienen Welten voneinander entfernt zu sein.

PADDELDAMPFER UND OXENKARREN

Die 40 km des nächsten Tages schaffte ich in weniger als vier Stunden und schlug mein Zelt unterhalb “Dauphin Rapids” auf, der letzten und heftigsten der zehn  Stromschnellen. L&C hatten hier am 27. Mai 1805 übernachtet, und es war auch ein häufiger Stopp für die Paddeldampfer ein paar Jahre später. Viele Schiffe nahmen hier extra Holz auf, denn die Dampfmaschinen fraßen etwa pro Tag 30 Klafter Pappelholz oder 20 Klafter Eiche. Zu der Zeit gab’s deshalb kaum noch einen Baum am Fluss; alles wurde verheizt. Zum Glück ist das heute aber wieder wie es zu L&Cs Zeiten war.

Bei Niedrigwasser oder später im Jahr, wenn der Oberlauf des Missouri bis hier her unbefahrbar wurde, wurde die Fracht auf Oxenwagen umgeladen. Ich las, dass im Jahr 1868 etwa 2500 Männer mit 3000 Gespannen und 20000 Oxen, Fracht von Cow Island nach Fort Benton transportierten - was für uns heute schwer vorzustellen ist.

L&C SEHEN DIE ROCKIES

Bei meinem nächsten Stopp bei Cow Island war es, wo Clark glaubte, zum ersten Mal die noch schneebedeckten Rockies gesehen zu haben. Er kletterte auf einen knapp 1000 m hohen Berg, kann aber nur die näheren Bear Paw Berge gesehen haben. Auf jeden Fall wollte ich mit Kompass und viel besserer Landkarte und Fernglas bewaffnet  sehen, was er so gesehen hat. Leider kam plötzlich ein starkes Gewitter auf, und ich musste mich mit einem der Vorberge begnügen und sah so gut wie nichts, nicht einmal die Bear Paws.

Warum auch ich die Rockies nicht gesehen habe
Warum auch ich die Rockies nicht gesehen habe

Dafür hatte ich aber zuvor an einer der “Homesteads”, der ersten Siedlerstellen, Halt gemacht. Da war ein Haus aus Baumstämmen gebaut, zwei Zimmer waren drin, ein Wohnzimmer mit Kochecke und Kamin und ein Schlafzimmer, in dem noch ein weisses, eisernes Bett stand. Dann war da noch ein kleines Haus und ein Fundament für eine Scheune. Die Gebrüder Smith sollen hier bis 1929 gewohnt und Alfalfa angebaut und Schweine gezüchtet haben. Ich frag Nancy lieber erst, ob sie hier mit mir einziehen würde, nachdem ich pensioniert werde - so für meinen Ruhestand.

Alte Homestead - ob die Nancy gefällt?
Alte Homestead - ob die Nancy gefällt?

DIE LETZTEN TAGE DER NEZ PERCE INDIANER

Die Nächte blieben weiterhin kalt, so um 5 Grad Celsius, die Wassertemperatur war konstant 15’ C und die Luft etwa 25 ‘ C, und wieder regnete es. Ich musste wieder in meinem Gore-Tex Anzug paddeln, auch an meinem letzten Tag auf dem Fluss. Da kam ich an dem “Nez Perce National Historic Trail” vorbei, auf dem Häuptling Joseph am 5. Oktober 1877 seinen Stamm in die Freiheit nach Kanada führen wollte. 72 km vor der Grenze wurden sie aber von amerikanischen Soldaten umstellt und praktisch ausgemerzt. Seine Ergebungsrede “Ich bin des Kämpfens müde” ist eins der traurigsten Worte, die ich je gelesen habe. Der farblose, feuchte Morgen war eine passende Kulisse für dieses traurige Kapitel in der amerikanischen Geschichte.

Ich paddelte mechanisch weiter, tief in Gedanken über die so verschiedenen Stränge der Geschichte, die hier an diesem Fluss enthusiastische Kundschafter, frühe Trapper, Pioniere und Siedler, Bootsleute und Eisenbahner in das Gewebe der alteinsässigen Bevölkerung wob; und das alles vor einem meist violenten, geologischen Hintergrund von 80 Millionen Jahren.

ENDE DER REISE

Der obere Lauf des Missouri ist somit eine Zeitkapsel; nicht viel hat sich hier seit den Tagen von L&C und der Expedition Maximilians mit Bodmers Bildern geändert. Unsere moderne Zeit mit seinen Städten und seiner Industrie hat dieses Gebiet um die 300 Flusskilometer links liegen gelassen. Auch vom kurzen Goldrausch (1884) ist keine Spur mehr zu sehen.

Die dünnen Intrusionen, Türme und Säulen werden zusammenfallen, die steilen Sandsteinkliffe abbröckeln. Auch wenn der Flussreisende denkt, in einer zeitlosen Gegend zu sein, so hat er dennoch nur für Momente “the still point of a turning world” (T.S. Eliot) erreicht, “a momentary stay beyond confusion” (Robert Frost). [Eliot: “das anscheinend ruhende Zentrum einer wild kreisenden Welt”. Frost: “ein flüchtiger Aufenthalt jenseits der Verworrenheit des Lebens”]. Wie eine Flusswelle hinter einem Stein, so scheint auch hier die Zeit ab und zu stillzustehen, aber nur um am Ende weiterzufließen.

Und mit diesen Gedanken war ich auch schon an der Brücke im James Kipp State Park, dem Anfang eines 240 km langen Staudamms für Motorboote und Touristik - Zeit für mich, meine Reise in die Vergangenheit zu beenden. Die Zweihundertjahrfeierlichkeiten an diesem Ort hatte ich um einen Tag verpasst. Das war mir recht. Ich hatte sieben Tage L&Cs erstaunliche Kundschafterreise persönlich und ganz allein ohne Ablenkung nacherlebt und noch viel Neues dazugelernt.

Die 200-Jahrfeier hatte ich verpasst
Die 200-Jahrfeier hatte ich verpasst

Ich bin immer noch von deren großen Abenteuer beeindruckt, das von Great Falls dann mit einer monumentalen Portage mit Pferden über die Rockies und dann den Snake und Columbia Fluss hinunter bis zum Pazifik führte und zurück zum Mississippi (1. Sept. 1806). Und äußerst lobenswert ist die Tatsache, dass sie in den drei Jahren nur einen Mann verloren haben, der höchstwahrscheinlich an einer akuten Blinddarmentzündung starb. Eine tolle Reiseplanung, eine beneidenswerte Zielstrebigkeit und Ausdauer hatten die Leute. Ich bin beeindruckt.

Ich wurde am nächsten Morgen von meinem Bootsvermieter am James Kipp State Park abgeholt, verbrachte eine letzte Nacht an den Great Falls und war am nächsten Tag wieder zu Hause in Maine - auch genau wie geplant, ohne Haverie oder Verletzung, nicht einmal eine Blase an den Händen.

INFOS:


4 Flusskarten mit Infos vom: Bureau of Land Management, Lewistown District, Airport Rd., P.O. Box 1160, Lewistown, MT 59457-1160, USA
Quelle für L&C sowie geologische und andere wichtige Information aus: Glenn Monahan & Chandler Biggs: Montana’s Wild & Scenic Upper Missouri River. Northern Rocky Mountains Books, Anaconda, MT , 1997/2001, USA. (erworben durch Montana River Outfitters)
Bootsvermietung und Transport zum und vom Fluss: Montana River Outfitters, Great Falls, MT, USA (craigm@montana.com)
Maximilian Prinz zu Wied: “Reise in das innere Nord-America in den Jahren 1832-34”. Bibliothek des Landesgewerbeamtes Stuttgart.

AUSRÜSTUNG:

4,80 m OLD TOWN Penobscot 16 (vom Bugsitz in Richtung Heck gepaddelt),
Zaveral Carbon Kanadierpaddel (mit Knickschaft, 312 Gramm;  siehe:  http://www.zre.com mit der Post zum Bootsvermieter geschickt;)

Iridium Satelliten Telefon

UHF-Radio-Telefon für 24-Stunden Wetterbericht (total nutzlos in dieser Gegend - d.h. ich hatte keinen Wetterbericht für die Fahrt)

© Reinhard Zollitsch

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